Von unserem Redakteur Volker Boch
Was genau in den frühen Morgenstunden jenes Sonntages zwischen Lorch und Rüdesheim geschah, ist bislang offen. Es wird noch eine Zeit lang dauern, bis die Umstände geklärt sind, die zu dem Unfall auf der rechten Rheinseite bei Lorch geführt haben. Falls sie überhaupt jemals aufgeklärt werden können.
In Deutschland gibt es fast täglich Entgleisungen
Fest steht rund drei Monate nach dem Unglück lediglich, dass niemand zu Schaden kam, was durchaus anders hätte ausgehen können. "Entgleisungen haben wir in Deutschland fast täglich", sagt Gerhard Heller aus Koblenz. Der Diplom-Ingenieur ist Konsulent für die Bürgerinitiativen, die im Rheintal gegen den Bahnlärm ankämpfen. Der fachliche Berater der Initiativen befasst sich seit Jahrzehnten mit den technischen Gegebenheiten und Herausforderungen des Bahnverkehrs. Auch im Fall des entgleisten Güterzuges versucht er, Licht in das Dunkel zu bringen.
An diesem frühen Junisonntag springt laut Angaben der Bundespolizeidirektion Koblenz der Güterzug gegen 5.30 Uhr bei Lorch aus den Gleisen. Die Polizei spricht davon, dass nur die letzten beiden Waggons betroffen waren. Bilder belegen unterdessen, dass mindestens vier Waggons das Gleis verlassen haben. Die Bürgerinitiativen und viele Anwohner entlang der Bahnstrecken zwischen Lahnstein und Rüdesheim sowie Koblenz und Bingen fordern aber nicht nur deshalb Aufklärung.
Aus ihrer Sicht ist es ein großes Glück gewesen, dass keine Menschen zu Schaden gekommen sind. Immerhin fuhr der 620 Meter lange und rund 750 Tonnen schwere, leere entgleiste Autozug nach dem Unfall noch kilometerlang weiter durchs Rheintal. "Das Besondere war, dass der Lokführer zunächst nichts bemerkt hat", sagt Reza Ahmari, Pressesprecher der Bundespolizeidirektion Koblenz. "Das ist ein relativ ungewöhnlicher Fall."
Der Zug war auf dem Weg aus dem nordrhein-westfälischen Emmerich nach Passau. In einer Rechtskurve unmittelbar hinter dem Bahnhof Lorch sprangen die Waggons aus den Schienen. Fremdeinwirkungen wurden nach ersten Ermittlungen ausgeschlossen. Das Eisenbahnbundesamt in Bonn analysiert den Unfall seitdem.
"Die Ermittlungen der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes laufen noch", berichtet Moritz Huckebrink vom Eisenbahnbundesamt. "Der Fokus der Untersuchungen liegt derzeit auf dem Fahrweg und den Fahrzeugen beziehungsweise dem Zusammenspiel beider Komponenten." Zurzeit stünden diverse Untersuchungen und Berechnungen aus - es ist offen, wann diese abgeschlossen sind. Erst danach kann die Bundespolizei in Absprache mit der Staatsanwaltschaft eine strafrechtliche Prüfung des Unfalls vornehme.
Es besteht der Verdacht eines fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr. Vorsatz scheint laut Bundespolizei ausgeschlossen zu sein. Bis das Eisenbahnbundesamt seine Ermittlungen abgeschlossen hat, kann es noch Monate dauern. Bislang sind die Fragen, die gerade Gerhard Heller als Berater der Bürgerinitiativen aufgeworfen hat, unbeantwortet. Denn aus Sicht des Experten ist kaum zu erklären, weshalb der Zug nach der Entgleisung noch "15 Kilometer lang weiter durch die Lande gefahren ist. Meiner Erkenntnis nach hat es das zuvor in Deutschland noch nie gegeben."
Wenn der Waggon eines mehrere Hundert Meter langen Zuges entgleist, muss der Lokführer davon kaum etwas mitbekommen, erklärt Heller. Aus diesem Grund gibt es technische Vorkehrungen, die den Zug stoppen sollen. Einerseits ist am Waggon ein Bremsschlauch, der üblicherweise reißt, sobald der Waggon aus dem Gleis springt. Dadurch fehlt die nötige Druckluft, um die Bremsen offen zu halten - sie greifen dann.
Da der in Lorch entgleiste Zug unbeladen war und besonders leichte Autowaggons hatte, blieben die Bremsschläuche offensichtlich intakt. Andererseits sollte es an der 2012 nach EU-Vorgaben modernisierten TEN-Strecke Genua-Amsterdam auch im Mittelrheintal eine weitere entscheidende Möglichkeit zum automatischen Stoppen des Zuges geben: Die sogenannte Achszähleinrichtung hätte beim Verlassen des Bahnhofs Assmannshausen laut Experten ergeben müssen, dass es diesmal eine Differenz gab und sich nicht die gleiche Anzahl an Achsen auf dem Gleis befand wie zuvor. Diese Differenz wird per Computer an ein zentrales Stellwerk übermittelt.
Irgendetwas in der technischen Sicherheitsschlaufe kann aber nicht funktioniert haben am 9. Juni, sind sich Fachleute sicher. Denn laut Bundespolizei ist die Fahrtdienstleitung in Frankfurt per Computer auf die Entgleisung aufmerksam geworden, ein Nothalt wurde dadurch in Rüdesheim veranlasst. Bahnkenner sagen jedoch, dass in Assmannshausen normalerweise ein Schrankenwärter hätte anwesend sein müssen, dem die Unregelmäßigkeit am Zug wohl aufgefallen wäre. Der entgleiste Zug sei allerdings "über Weichen, Schranken und Bahnanlagen drübergerauscht". Die Schäden am Gleis, Gleisbett und Oberleitung waren immens, zudem riss zwischen Lorch und Assmannshausen eine Unzahl an Schwellen. Für kritische Beobachter stellt sich jetzt die Frage, ob die Bahn bei der Modernisierung der Strecke alle sicherheitsrelevanten Gegebenheiten beachtet hat.
"Die Bahnlinien im Rheintal beziehungsweise im Welterbe Oberes Mittelrheintal weisen mindestens ein Ereignis von höchster Gefährdung pro Jahr auf", schreibt Heller in einer Analyse für die Bürgerinitiativen. Er sieht "ein Gefährdungspotenzial, das auf keiner anderen deutschen Bahnstrecke erreicht wird". Abseits der Lärmdiskussion ergibt sich damit eine andere Frage: Sind Unfälle wie jener von Lorch Unglückssituationen, die nicht vorhersehbar sind? Oder werden sie durch Rationalisierungsmaßnahmen der Bahn begünstigt?
Der Unfallzeitpunkt war ein besonderer Glücksfall
An einem Sonntagmorgen gegen 5.30 Uhr sind im Wochenvergleich nur wenige Menschen unterwegs. Wohl dadurch entstand durch den Unfall nur Sachschaden. An einem anderen Tag, an dem morgens Arbeitnehmer zur Frühschicht, Zeitungsausträger oder Kinder unterwegs sind, hätte es anders ausgehen können, ist sich nicht nur Willi Pusch von der Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschäden durch die Bahn sicher. Denn durch die Entgleisung wurden kilometerlang massiv Schottersteine aus dem Gleisbett geschleudert und auch weit abseits der Bahnstrecke verteilt. Eine Reihe Autos wurde nahe Assmannhausen durch herumfliegende Steine beschädigt. Die parallel zur Bahnlinie verlaufende B 42 war auf einer langen Strecke regelrecht mit Schottersteinen übersät. Die Rede ist von einer "Schotterwolke".
Entgleisungen im Welterbe-Tal sind keine Seltenheit. Aber in diesem Fall ist die öffentliche Sicherheit und insbesondere die B 42 akut gefährdet worden, erklären Experten - und fordern Aufklärung sowie Konsequenzen. Denn bei einem vergleichbaren Vorgang auf der Straße würden die zuständigen Behörden und Landesregierungen schadens- und verkehrsrechtliche Konsequenzen gegenüber dem Verursacher fordern.
Laut Konsulent Heller gibt es bis heute aber keine offiziellen Stellungnahmen. Auch der Verkehrsausschuss des Bundestages ist über den Unfall informiert. Ob dies die Betriebssicherheit der Bahnstrecken am Mittelrhein erhöht, ist völlig offen.